Stell dir vor, du kommst von der Arbeit nach Hause. Du hattest einen stressigen Tag auf der Arbeit, standest auf dem Nachhauseweg im Stau. Jetzt bist du gereizt und willst deine Ruhe.
Im Flur kommt dein dreijähriger Sohn auf dich zugerannt, in der Hand einen Filzstift. „Papa, guck mal!“, ruft er. Du ahnst es schon, aber kannst es trotzdem nicht fassen, als du den Raum betrittst: Dein Kleiner hat ein Kunstwerk für dich an die Wand gemalt. Die Tapete ist komplett mit Filzstift vollgeschmiert. Ganz klar, das lässt sich nicht abwaschen. Im Kopf legst du dir bereits deine Worte zurecht, aber warte.
Die Macht der Worte
Worüber du dir bewusst sein solltest: Du befindest dich in einer Machtposition in dieser Situation. Wie du dich entscheidest, bestimmt den Ausgang dieser Situation für dich und für deinen Sohn.
Du hast keinen Einfluss darauf, was dir passiert im Leben, aber du kannst bestimmen, wie du auf Situationen reagierst.
Wir sollten uns darüber bewusst sein, welche Macht wir darüber haben, wie wir und Andere uns in Alltagssituationen fühlen.
Gewaltfreie und bewusste Kommunikation sind für den eigenen Erfolg und das eigene Wohlbefinden wichtige Fähigkeiten, die du lernen solltest.
Wie wir mit Anderen umgehen, hat einen direkten Einfluss auf die Beziehungen, die wir in unserem Leben aufbauen. Beziehungen gehen immer in beide Richtungen: Wie wir kommunizieren, beeinflusst im Umkehrschluss, wie Andere dich behandeln (und wie sie Andere in Zukunft behandeln).
Kommen wir zurück zur Situation mit deinem Sohn. Diese Situation ist austauschbar mit jeder anderen Gesprächssituation, in der du Wut oder Ärger empfindest oder deine Gefühle verletzt wurden. Du kannst entscheiden, wie du dich verhältst und häufig gibt es kein eindeutiges „richtig“ oder „falsch“.
Worüber du dir bewusst sein musst, ist: Jede deiner Handlungen hat Konsequenzen. Du kannst dir dein Bewusstsein darüber zu nutzen machen und Einfluss auf die Situation nehmen.
Dieses Bewusstsein entsteht durch Übung. Wenn du dich das nächste Mal in einer solchen Situation befindest, atme tief durch und überprüf deine eigenen Motive:
Fühlst du dich wütend, verletzt o.ä.? Bist du offen, mehr über die Perspektive der anderen Person zu lernen? Hast du deine Meinung über die Situation bereits gebildet? Hast du vorschnelle Urteile über die Motive der anderen Person gefällt oder bist du bereit, diese erst einmal zu erforschen?
Übrigens, wir bewerten andere Menschen und deren Verhalten ständig. Probier es selbst aus: Versuche, eine Stunde lang niemanden zu bewerten. Du wirst feststellen, dass du normalerweise ein (und sei es noch so kleines) Urteil über jemanden fällst, sobald sie den Raum betreten.
Mögliche Reaktionen
In jeder Situation hast du unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Wie gesagt, du bist in dieser Situation in einer Machtposition und kannst selbst ihren Ausgang bestimmen, wenn du dir über deine Möglichkeiten bewusst bist:
Angriff
Die meisten von uns gehen am schnellsten in den Angriffsmodus über: Die andere Person ist für die Situation verantwortlich. „Du bist Schuld, ich habe Recht“, lautet das Motto. Im Angriffsmodus bewertest du die Situation der anderen Person, es herrscht kein Platz für alternative Meinungen.
Im Normalfall wird die Reaktion deines Gegenüber ebenfalls aggressiv ausfallen. Er fühlt sich in die Enge getrieben und versucht, sich zu verteidigen. Natürlich gibt es Situationen, in denen es wichtig ist, Stellung zu beziehen. In den meisten Fällen ist ein verbaler Angriff aber nicht lösungsorientiert. Stell dir immer zuerst die Frage: „Was ist wichtiger? Eine gute und positive Beziehung mit der anderen Person zu führen oder auf mein Recht zu bestehen?“
Kommen wir zurück zum Beispiel mit dem dreijährigen Sohn. In diesem Fall könntest du ihn anschreien. Natürlich war es „falsch“, die Wand anzumalen, denkst du aber über seine Intention nach, war es niemals deine Absicht, dich zu verärgern. Wenn du nun wütend reagierst, wird er sich verteidigen oder alternativ nicht verstehen, warum du wütend bist.
Zweifel
Du kannst natürlich auch mit Selbstzweifeln oder Angst reagieren. Du gibst dir selbst die Schuld, in besagter Situation zu sein. „Ich bin nicht genug. Ich bin selbst daran Schuld, in dieser Situation zu sein.“ Diese Reaktion wird oft durch negative Glaubenssätze in unserem Unterbewusstsein hervor gerufen.
Es ist immer hilfreich, die eigene Situation kritisch zu hinterfragen, Zweifel und Ängste führen dich aber ebenfalls selten zu einer Lösung. Dein Gegenüber interpretiert diese Reaktion häufig als Enttäuschung.
„Warum bin ich so ein schlechter Vater? Ich hätte ihm beibringen müssen, dass man nicht an Wände malt. Hätte ich meinen Job besser gemacht, würde ich mich jetzt nicht in dieser Situation befinden.“ So oder so ähnlich könnte dein innerer Monolog vor der Wandmalerei deines Sohnes aussehen. Auch, wenn du nicht wütend reagierst, nimmt dein Gegenüber deine Gefühle wahr und fühlt ist unglücklich.
Beobachtung
Beobachtung ist der neutralste Zustand, mit dem du auf eine Situation reagieren kannst. Bevor du dir eine Meinung bildest, trittst du erst einmal zurück und betrachtest sie mit Interesse. Wie ist es zu dieser Situation gekommen, welche Faktoren haben dazu beigetragen? Einen Moment inne zu halten, gibt die bewusst die Möglichkeit positiv oder negativ zu reagieren, weil du dir die Zeit nimmst, die Situation einzuschätzen und abzuwägen.
Im Falle deines Sohnes könntest du erst einmal einige Fragen stellen und herausfinden, was seine wirkliche Intention hinter dem Kunstwerk war. Das gibt dir Spielraum für eine adäquate Reaktion, bei der keiner von euch das Gesicht verliert.
Selbstreflexion
Selbstreflexion geht einen Schritt weiter: Du beziehst dich selbst mit in die Beobachtung ein. Warum fühle ich mich, wie ich mich fühle? Dadurch lernst du besser deine eigenen Motive kennen und machst dich mit deiner eigenen Persönlichkeit vertraut. Trotzdem behältst du in dieser Situation deine Machtposition inne. Du behältst dich selbst im Auge, lässt dir aber die Möglichkeit offen deine Reaktion zu evaluieren. Ein besseres Verständnis der Situation hilft dir, die Reaktion an den Kontext, anzupassen, anstatt mit dem Ego zu reagieren. Wähle deine Worte bewusst, nachdem du über deine eigene Motivation nachgedacht hast.
„Warum fühle ich mich wütend, gestresst in dieser Situation? Hat das mit der eigentlichen Situation zu tun oder mit meinen bereits bestehenden Gefühlen? Wie möchte ich reagieren?“
Beziehungen aufbauen
Deine letzte Möglichkeit ist es, Brücken zu bauen. Was ist der anderen Person wichtig? Warum hat sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten hat? Was sind ihre Antreiber?
Welche Fragen muss ich stellen, um die richtigen Antworten zu erhalten?
Sich in die Position des Anderen zu versetzen und deren Perspektive anzunehmen, zeigt Führungsqualitäten und hilft, Konflikte so zu lösen, dass beide Seiten zufrieden sind
Gewaltfreie Kommunikation
Wie du vielleicht bemerkt hast, sind einige die ersten beiden Reaktionen, Angriff und Selbstzweifel, nach innen gerichtet und selbstbezogen. Sie führen zu Reaktionen, die keinen positiven Ausgang für beide Parteien haben. Die anderen drei Reaktionen sind gewaltfreie Reaktionen, gegen sich selbst und gegen Andere. Sie bieten mehr Handlungsspielraum, eine Situation zu erzeugen, die von beiden Seiten als angenehm empfunden werden kann.
Gewaltfreie Kommunikation heißt übrigens nicht, dass du dir alles gefallen lassen musst. Denk zurück an die Situation mit deinem Sohn, der die Wand angemalt hat. Es macht einen entschiedenen Unterschied für euren Tag, ob du ihn anschreist (oder alternativ in Selbstzweifel versinkst und dich fragst, ob sein schlechtes Verhalten daher kommt, dass du als Vater versagt hast) oder ob du dir Gedanken über seine Motive machst und ihm bestimmt, aber freundlich erklärst, warum die Wände nicht zum Malen gedacht sind. Das gleiche Prinzip funktioniert für Kommunikation mit Mitarbeitern, Partnern, Freunden oder Angestellten.
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