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Tschernobyl – Ein Reisebericht 11 Jahre nach der Katastrophe - PrNews24.de

Bei meiner Ausstellungseröffnung zum Thema Tschernobyl trat Herr Schaffer an mich heran und gab mir einen Reisebericht von 1997. Herr Schaffer lebt nicht weit von mir und ist ein Weltenrumbummler.

BildDas Leben nach den Supergau

Breites, narbiges, buckeliges Asphaltband. Schnurgeradeaus zum fernen Horizont. Katen ducken sich längs der Straße windschief in verwilderte Gärten. Sonnenblumen. Der Kerne wegen. Endlos die Allee kunterbunter Bäume. Grelles Gelb, flammendes Rot, leuchtendes Orange. Reste staubigen Grüns. Wolkenlos blau blendender Himmel. Ein Mähdrescher treckt über die Piste. Ein LKW scheppert vorbei. Ein Planenwagen zockelt auf dem Sommerweg daher. Der Kutscher nickt in sich hinein. Kopfbetuchte Babuschkas sitzen im grauen Gras am Rand. Ein Rabe krächzt müde. Kleine Pause. Weites Land. Fruchtbares Land. Armes Land.

Welche Folgen hatte Tschernobyl für die Menschen?

GAU. SUPERGAU. Der vor sich hin brütende Reaktor Nummer vier explodiert am 26. April. Fünf vor Zwölf. Fragwürdig gebändigte Energie bricht aus. Schleudert vulkangleich tödlich strahlende Betonbrocken kilometerweit um sich. Wolken tragen giftigen Staub weithin übers Land. Weithin über den Kontinent. Es regnet Unheil. Radioaktivität. Niemand sieht sie, niemand riecht sie, niemand schmeckt sie. Die überall gegenwärtige. Heldenmütig stürzten sich Feuerwehrleute und Kraftwerker in das Inferno. Mit unsäglichen Mitteln, fast mit bloßen Händen zu retten, was nicht zu retten ist. 29 gehen elend zugrunde. Verglüht, verstrahlt, vergangen. Was die Menschen für ihr Wohl schufen, geriet ihnen zum Verhängnis. Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Über allem herrscht Schweigen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Kiew feiert den 1. Mai. Wie jedes Jahr.

Das Gebiet um Tschernobyl

Ein Posten. Ein Schlagbaum. Eine digitale Anzeige zeigt 82 Milliröntgen (820 µSv? Ich vermute eher Mikroröntgen, also 0,8 µSv) an. Dahinter liegt Prypjat. Menschenleer. Eine Geisterstadt. Mit der Atomstation entstanden, eine moderne Wohnsiedlung. Wohnblöcke, Hochhäuser, Restaurants, Hotels, Universalnie Magazin, ein Kulturpalast. Schulen und Kindergärten. Inmitten von Grünanlagen und Parks. Für 20 000 Menschen. Stolz auf ihre Errungenschaften. Bis sie am 29. April Lautsprecher auf den zentralen Platz zusammenplärren. Alle. Evakuierung. Wie sie kamen, kesselt sie die Armee ein. Selektiert nach Kind, Weib, Mann. Verladen und in den Wald. Entkontaminiert. Ab in die Ferne. Es dauert Wochen, ehe sich manche Familien wieder finden.

Niemand konnte etwas mitnehmen. Möbel, Hausrat, Kleidung, Lebensmittel blieben in den Wohnungen. Vieles in zehn Jahren verdorben. Geraubt. Der Rest steht hinter geborstenen Fensterscheiben. Die Häuser wuchern langsam zu. Die Natur kommt zurück. Ganz langsam, ganz sicher. Obdachlose, anderswo nicht Angekommene siedeln schon wieder in der 30-Kilometer-Zone. Woanders können sie nicht überleben, hier überleben sie sich zu Tode.

Das Museum

Im Foyer hängen Ortsschilder. Mit einem roten Diagonalstrich . 72 liquidierte Ortschaften in der 30-Kilometer-Zone. Eine Vitrine. Ein junges Gesicht, eine Uniform, ein Orden. Macht einen Helden, einen Heiligen. Hunderte junger Gesichter, hunderte Helden, hunderte Heilige. Im Saal an der Decke die fünf Erdteile. Die Atomstationen darauf. Vollzählig. Für jedes leuchtet harmlos ein Lämpchen. An der Wand tausend leuchtende Augenpaare. Tausend Kindergesichter. Tausendfach Sinnbild der Zukunft. Vergangen im dritten, vierten, fünften Jahr ihres Daseins. In fast elf Jahren „nach Tschernobyl“. Auf dem Parkett abgebildet die Deckplatte des Reaktors. Originalgroß. Einige Stäbe ragen heraus. Tragen eine Sitzplatte. Eine holzgeschnitzte Wiege hängt von der Decke herab. Schaukelt sacht über dem fiktiven Reaktor. Puppen, Teddys, ein Buratino sitzt stumm darin. Sie blieben übrig. Die Kinder sind tot.

Die humanitäre Hilfe

Worte des Landrats. Vom Winde verweht. Eine Schulklasse wünscht gute Fahrt. Der Konvoi geht ab gen Osten. 1600 Kilometer. 36 Stunden non stopp. Hoffnungsvoll überladen mit Paketen, Päckchen, Geschirr, Overalls für die Tschernobyler Feuerwehrleute. Verpflegung für die neunköpfige Transportmannschaft. Neun Wochenrationen. ,,Helft den Kindern von Tschernobyl!“ rief die Zeitung auf. Das DRK zur Seite.

Tausend packten Pakete ein. Schüler vor allem, engagierte Veteranen, Mitbürger aller Orten. Reich gefüllt, bunt eingehüllt. Mit Bildern lieb bemalt. Ein „Plüschi“ oben drauf . Eine alte Dame stiftete gar Kaffee für die Fahrer. Manchen war jede Mark zu schade. Sie entsorgten, was sie nicht mehr brauchten. Wenige.

Halt an einer Grenze. Neben uns elf Trucks mit Hilfsgütern. Für drei Millionen. Sagt ein Fahrer. Ausgebaute Fenster und Türen, alte Röntgengeräte. Die werdens sicher noch verwenden können. In Moldavien. Sagte ein anderer. Ein peinlich sauber geharkter Grenzstreifen trennt Polen und die Ukraine.

Opfer der Tschernobyl Katastrophe

Die Klinik riecht deprimierend, schmuddelig und nach Chemie. Eine Alte hockt am Fenster. Kaut Sonnenblumenkerne Reinemachen gilt nicht. Kleine Glatzköpfe mit großen Augen stehen in offenen Türen. Spielen auf dem Flur. Sitzen, liegen apathisch in ihren Betten. Bettwäsche müssen die Eltern mitbringen. Medikamente bezahlen. Wer kann. Sonst gibt es keine. Essen kocht die Mutter, die Oma auf dem Flur. Die bunten Pakete ziehen alle an. Der Berg aufgestapelter Plüschtiere, das Spielzeug. Die Kindersachen, sortiert nach Größen. Die Ärztin hilft beim Verteilen. Familie für Familie. Da steht eine Frau bescheiden. Wartet, was sie erhält, wählt zaghaft ein Kleidchen aus. Eine andere kommt zum fünften Mal, mit flinken Augen sieht und noch flinkerem Griff erhascht sie das sechste Stück. Ein dünner Winzling grapscht heimlich durch die Barriere eine Knautschmaus. Haut ab. „Mein Kind besitzt alles. Nur keine Gesundheit“, sagt eine blasse Frau. Irgendwie vorwurfsvoll. „Sucht mal ein schönes Freßpaket raus. In der 7 liegt ein Junge. Der stirbt wahrscheinlich in ein, zwei Wochen“. Er bekommt einen riesigen Affen aus Plüsch. Seine Augen leuchten matt auf. Die Samariter verlassen das Haus. Fix und fertig. Die Alte hockt immer noch am Fenster und kaut Sonnenblumenkerne.

Die Veteranen

Mitten in der Stadt. Die Pakete wandern flott von Hand zu Hand ins Haus. Rüstige alte Krieger. Das Fernsehen war schon weg. Festakt. Eine Rede über die Freundschaft. Vor allem zur DDR. Schade, dass das mit dem Sozialismus nicht klappte. Jetzt herrscht großer Mangel. Doch wir hoffen, dass, bald, mit Hilfe, aus eigener Kraft… Der Redakteur der Zeitschrift

,,Buchenwald mahnt“ mahnt uns. Die Samariter erhalten einen Orden. Mit Urkunde. Und eine Einladung in die ukrainische Weite. Nahe der Desna. Eine Datscha, ein lustiger General, seine Matka, ein mit Spezialitäten des Landes gedeckter Tisch. Alles aus Wald, Fluss, Feld und Garten. Wodka aus der Naturalform des Warenaustausches. Zwei Stunden Toast auf Toast. 50 Gramm auf 50 Gramm. Umarmung . Drei Küsse. Doswidanija, Towarischtschi!

Die Poliklinik inmitten der Stadt

Eine Klinik für 60 000 Menschen. Für alles. Das Personal erhielt schon fünf Monate kein Gehalt. Sagt die Chefärztin. Auch ihre Patienten müssen die Medikamente bezahlen. Wenn vorhanden. Wenn sie gespendete erhalten, kosteten sie weniger. Vielleicht die Hälfte. Medikamente brauchen sie. Gezielt, für ganz bestimmte Indikationen. Dringender als Lebensmittel. Obwohl sie uns 850 Adressen nennen kann. Von Alten und Kranken, die hilflos zuhause liegen. Hungern. Verhungern. Allein in ihrem Rayon. Aber alle Adressen kennt sie nicht. Die Samariter hinterlassen einen Berg Pakete. In den richtigen Händen. Denken sie. Abends gehen sie in die Sauna.

Die Feuerwehr

,,Hallo, Kinder, schafft mal die Pakete rein“. Ein Befehl. Die grüngraukhaki gescheckten Jungs kommen aus der Ruhestellung. Der Feuerwehrhauptmann hat gerade Geburtstag. Das Gesicht gerötet, die breitrandige Schirmmütze auf den Hinterkopf gerutscht. Anzeichen zahlreicher herzlicher Gratulationen. Zuerst zeigt er uns die Helden seiner Einheit. Die Heiligen, die den Strahlentod starben. Sein Stellvertreter, einer der ersten am Unglücksreaktor, überlebte. Ein lebendes Denkmal. Eines aus Beton erhebt sich monumental vor dem Feuerwehrareal. Daneben das schwere Löschgerät. Räumpanzer, Lafetten mit Wasserkanonen, Katjuschas zum Zersprengen des Brandherdes. ,,Wenn unsere Feuerwehr hier vorgefahren käme, den Genossen gingen die Augen über, sagt ein Thüringer Feuerwehrmann. Zweihundert Meter weiter das Kraftwerk. Der Sarkophag. Brütet vielleicht an einem neuen Ausbruch. Der Reaktor ist sicher. Sagen die Feuerwehrleute von Tschernobyl. Da sind sie sicher. Die Alltäglichkeit des Lebens am Rande der Gefahr stumpft die Angst. Außerdem gibts „Wässerchen“. Zumindest am Geburtstag. Schwer zu entscheiden wer besser dran ist. Sie, oder die zu Hause täglich die Spuren des Massenmords auf deutschen Straßen beseitigen müssen.

geschrieben von
WILHELM SCHAFFERTschernobyl - Ein Reisebericht 11 Jahre nach der Katastrophe

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