Die Zukunft gehört einer beinahe evolutionären Weiterentwicklung des Menschen: dem Homo stimulus. Im Interview erläutert Andreas Herteux diesen näher und gibt einen Ausblick in die Zukunft.
Interview mit Andreas Herteux, dem Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, über den Menschen der Zukunft, den Homo stimulus
Herr Herteux, Sie beschreiben einen neuen Typus Mensch, der die Zukunft dominieren wird. Was ist dieser Homo Stimulus eigentlich?
Unter einem Homo Stimulus, versteht man eine derartig konditionierte Person, die an eine permanente Konfrontation mit hochfrequentierten, kurzen sowie künstlichen Reizen gewöhnt ist und sich ihnen kaum oder nur teilweise entziehen kann oder will. Im Gegenteil werden bestimmte Reize oft selbst eingefordert oder ein entsprechender Reizdialog angestoßen.
Das klingt erst einmal kompliziert.
Ist es aber nicht. Stellen Sie sich Ihren Alltag vor. Sie fahren in der U-Bahn zur Arbeit und sehen um sich zig Personen, die sich mit ihrem Smartphone beschäftigen. Der Eindruck, dass diese Menschen dauerhafte Konfrontation mit Stimuli für normal halten, suchen, vielleicht brauchen, könnte daher auch dann entstehen, wenn Sie den Begriff „Homo Stimulus“ noch nie gehört haben.
Die modernen Medien erlauben es den Empfänger eines Reizes gezielter, pointierter, schneller umfangreicher und direkter anzusprechen. Gleichzeitig hat diese Entwicklung aber auch die klassischen Medien verändert, denn häufig werden Texte heute kürzer, einfacher oder aber Schnitte bei visuellen Medien schneller und intensiver. Wir leben daher in einer modernen Reizgesellschaft.
Parallel hierzu entwickelt sich aber auch der Mensch, der sich schlicht an diese Form der Reizansprache gewöhnt und sich daran anpasst. Es sind daher immer sich gegenseitig beeinflussende Wechselwirkungen, die diese Veränderungen geprägt haben.
Ob es sich hier nur um einen Konditionierungsprozess, also einem Lernvorgang, handelt oder aber ob sich zusätzlich die Gehirnfunktionen in einem solchen Umfeld massiv verändert haben, können wir im Moment offenlassen, obwohl zahlreiche Studien davon ausgehen, dass sich das Gehirn, vermutlich auch das Nervensystem, entsprechend anpassen und sich im gewissen Sinne umprogrammieren. Klar trennen lassen sich die Bereiche bekanntlich sowieso nicht. Auf dem Gebiet der Neurowissenschaften lässt sich in dieser Hinsicht aber ohne Frage noch viel erforschen.
Was ist der zentrale Unterschied zwischen den Reizen vergangener Zeiten und denen in der heutigen Zeit?
Der zentrale Unterschied liegt daran, dass es all die Reize in früheren Zeiten, und dabei soll es egal sein, ob sie durch Fernsehen, Radio, dekorierte Schaufenster, Kataloge oder was auch immer erzeugt wurde, in der Regel nicht geschafft haben in die innerste Privatsphäre des Menschen dauerhaft vorzudringen und sich dort als wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens zu etablieren. Die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Stimulus war schlicht eine andere. Sie können den Fernseher ausschalten. Bei den modernen Medien vermischt sich aber oft Person, Persönlichkeit und Reiz, da es sich in der Regel um eine Einbettung, einen persönlichen Zuschnitt handelt. Denken Sie hier nur beispielsweise an die Bedeutung sozialer Medien oder nur deren Likes für das Selbstwertgefühl. Dieser Unterschied ist der Schlüssel zum Verständnis einer neuen Zeit, der des kollektiven Individualismus, der unter anderem durch die moderne Reizgesellschaft, aber auch den Verhaltenskapitalismus geprägt wird.
Ist der Homo stimulus leichter zu manipulieren?
Unstrittig ist, dass ein großer Teil der neuen Reize, die heute übrigens in großer Zahl maschinell bzw. künstlich durch Algorithmen geschaffen werden, dazu dienen, ein bestimmtes Verhalten zu erzeugen. Der Homo stimulus ist es aber gewohnt, mit einer Vielzahl davon gleichzeitig umzugehen. Den größten Teil der Stimuli nimmt er überhaupt nicht wahr, sondern hat bestimmte Filtertechniken entwickelt, die aber wiederum von Person und Prägung abhängig sind. Der Beeinflussungsversuch läuft daher oft ins Leere.
Dass aber die Reizsender in der modernen Reizgesellschaft mehr Möglichkeiten haben, in das Innerste vorzudringen, lässt vermuten, dass eine Verhaltensbeeinflussung nicht schwieriger geworden ist. Das menschliche Verhalten wurde nicht umsonst zum Produktionsfaktor einer ganz neuen Form des Wirtschaftens: Den Verhaltenskapitalismus, der ohne die technologische Entwicklung sowie anderen Wechselwirkungen nicht zu etablieren gewesen wäre. Heute ist er aber die dominierende Form des Kapitalismus, obwohl er allzu oft nicht als eine solche wahrgenommen wird.
Ist der Homo stimulus nun der Mensch der Zukunft?
Es sieht so aus, als würde der Homo stimulus die dominierende Form des Menschen werden.
Und wenn sich die Menschen dagegen wehren würden?
Das impliziert, dass der Homo stimulus grundsätzlich etwas Schlechtes an sich hätte. Tatsächlich handelt es sich aber nur um eine Weiterentwicklung und Anpassung. Sicher gibt es im Moment noch viele Möglichkeiten, den Einfluss der Reize zu begrenzen.
Dabei wird man aber mit jedem Jahr mehr auf Annehmlichkeiten und zum Teil auch lebensnotwendige Anwendungen, man denke hier nur auf die kommenden Durchbrüche in der KI-Forschungen oder der Medizin, verzichten müssen.
Da würde aber natürlich irgendwie gehen, denn schließlich konnte man sich auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts in gewissen Konstellationen, vielleicht als Bauer auf dem Land, der Industrialisierung größtenteils entziehen.
Nur sollte man nicht vergessen, dass die Kinder und Kindeskinder im Zeitalter des kollektiven Individualismus, also in Mitten des Verhaltenskapitalismus und der modernen Reizgesellschaft aufwachsen und nichts mehr anderes kennen werden.
Die spannende Frage wird allerdings eine andere sein: Welche Rolle wird Kausalität in der Zukunft noch spielen.
Wie meinen Sie das?
Schon heute sind viele der hochfrequentierten Reize nur bedingt zusammenhängend. Beispielsweise wenn zig Nachrichten angesehen oder kurze Videos abgespielt werden, die nur Sekunden später vergessen sind oder von neuen Stimuli verdrängt werden. Den Zusammenhang kennt oft nur der analysierende Algorithmus, nicht der Nutzer.
Wäre es nicht möglich, dass Kausalität eine überschätzte Komponente ist und ein Teil der Menschheit in einer nahen Zukunft schlicht, Teile des Tages, nur von Reiz zu Reiz springen wird? Und dabei vollumfänglich zufrieden ist? Natürlich können wir uns das heute kaum vorstellen und doch dürfen wir die Augen für künftige Entwicklungen nicht geschlossen halten.
Eine der großen Fragen der Zukunft wird daher die nach der Kausalität sein. Erst einmal eine philosophische und dann eine sehr reale.
Vielen Dank für das Gespräch
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