„Ob eine exkludierende Bildung im 21. Jahrhundert noch Platz hat, muss offen diskutiert werden!“
Inwieweit wird das deutsche Förderschulwesen dem Verständnis von Handicap und Inklusion des 21. Jahrhunderts noch gerecht? Diese Frage stellt der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland angesichts eines wachsenden Bedürfnisses von Eltern körperlich, seelisch und geistig beeinträchtigter Kinder nach einer gemeinsamen Beschulung ihrer Jüngsten mit Alterskollegen ohne Behinderung: „Uns erreichen zahlreiche Zuschriften von Familien, die die Parallelwelt von Regel- und Förderschulen nicht mehr als zeitgemäß ansehen und sich für einen Unterricht aller Kinder unter einem Dach stark machen“, erklärt der ABiD-Sozialberater Dennis Riehle, der aufgrund einer zunehmenden Sensibilisierung für das Thema der inkludierten Gesellschaft eine Wiederaufnahme der Diskussion über die Ausgliederung von Schülern mit Handicap aus den Haupt-, Real-, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien in das für Europa vergleichsweise einzigartige und nach Auffassung des ABiD durchaus stigmatisierende deutsche System der Sonderschule fordert, das nach seiner Auffassung nicht mehr zeitgemäß ist.
„Es ist schwer zu verstehen, dass heute jedes öffentliche Gebäude vor dem Bau auf seine Barrierefreiheit geprüft werden muss, während wir behinderte Schüler in vielen Fällen noch immer zwangsweise in Einrichtungen exkludieren, in denen sie unter sich bleiben müssen und ihnen der Anschluss an die Zivilgemeinschaft verwehrt wird“, so der 37-Jährige, der allerdings hinzufügt: „Zweifelsohne müssen wir ergebnisoffen erörtern, auf welchem Weg der beste Lernerfolg und die erfolgversprechendste Persönlichkeitsentwicklung von Kindern mit Behinderung gelingen kann. Man kann die Auffassung vertreten, dass dies im geschützten Rahmen eher möglich ist als im ohnehin von zunehmendem Leistungsdruck gekennzeichneten Regelschulbetrieb. Das Argument, wonach eine Inklusion von Schülern mit Beeinträchtigung allerdings zu teuer, zu aufwändig wäre und im Zweifel das Lernniveau der nicht-behinderten Kinder gezwungenermaßen absenken würde, ist mit dem Stand von Wissenschaft und Forschung über die Auswirkungen von Integration nicht mehr haltbar, sondern diskriminiert in besonderer Weise“.
Die Tendenz, wonach der Anspruch von Vätern und Müttern auf Regelbeschulung ihrer behinderten Sprösslinge mittlerweile sogar wieder zurückgedrängt und mit der fehlenden Akzeptanz von Lehrern, Klassenkameraden und Eltern der „gesunden“ Schüler gerechtfertigt wird, sei für einen aufgeklärten Industriestaat ein Armutszeugnis, meint der ABiD-Sozialberater Riehle. Prinzipiell störe ihn die Generalisierung, mit der behinderte Kinder über einen Kamm geschoren werden: „Wir brauchen sehr viel mutigere Einzelfallentscheidungen, die in der Abwägung stets das Kindeswohl im Auge haben und dabei im Zweifel davon ausgehen, dass Schule nicht nur zur fachlichen Bildung beiträgt, sondern junge Menschen auch zu sozialen Wesen macht, die für ihr Wachstum auf Auseinandersetzung und Positionierung in der Gesellschaft angewiesen sind“. Es bringe daher nichts, sie aus falscher Vorsicht dauerhaft in Watte zu packen und in einer Luftblase gedeihen zu lassen, die von der Realität abschirme, so Riehle. „Viel zu oft verstehen wir Behinderung noch immer als undifferenziertes Defizit, sodass wir schnell die Fähigkeit zu Selbstverantwortung und Durchsetzungskraft von Kindern mit Handicap in einem inkludierenden Umfeld übersehen. Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Dass wir dazu neigen, beeinträchtigte Schüler pauschal in Fördereinrichtungen unterbringen zu wollen, weil wir glauben, ihrem Wohl damit am Nächsten zu sein, ist übergriffig und hat mit Eigenbestimmung jedes behinderten Menschen – unabhängig seines Alters – nichts zu tun“.
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